Das bewegende Revivalkonzert des Kammerchors Vocalis zur Vorweihnachtszeit am 9. Dezember 2017 hat mir wieder in Erinnerung gebracht, wie Teresa und ich zu diesem Chor gekommen sind und welch schöne Erlebnisse wir ihm zu verdanken haben. Der Weg in den Chor war hierbei nicht eben leicht.
Lange Jahre hat Teresa versucht, mit dem Deseret Vokalensemble einen Chor im Pfahl München zu etablieren, der – ganz ähnlich wie der Kammerchor Vocalis – den Gemeinden durch hochwertige Chorkonzerte bei der Missionsarbeit unterstützend zur Seite steht. Tatsächlich gab es auch schöne Erfolge: so wurde beispielsweise die moderne Kantate Dies ist Jesus von Janice und Steven Kapp Perry in deutscher Sprache über zehn Mal im Pfahlgebiet aufgeführt. Insgesamt jedoch gestaltete sich das Projekt eher schleppend, und es war schwierig, Motivation und homogenen Klang bei den Sängerinnen und Sängern über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.
Im Jahr 2010 kam nun der Kammerchor Vocalis zu einem Konzert in die Hofbrunnstraße nach München. Vocalis war drei Jahre zuvor in Frankfurt von Sonja Sperling und Christian Wolfert gegründet worden und hatte sich deutschlandweit in der Kirche rasch einen Namen gemacht. Er bestand aus gut dreißig überwiegend jungen Frauen und Männern, die aus allen Teilen Deutschlands und der Schweiz zu den Proben in Frankfurt zusammenkamen und dort ein Programm einstudierten, um anschließend auf Tournee zu gehen. Ich persönlich konnte beim Konzert in München leider nicht zugegen sein, da ich – wie so oft in dieser Zeit – für meine Firma auf den Weltmeeren unterwegs war.
Teresa gefiel das Konzert sehr gut. Sie unterhielt sich im Anschluss auch längere Zeit mit Christian Wolfert und fragte mich nach meiner Rückkehr, was ich wohl davon halten würde, dem Chor beizutreten. Die Frage kam für mich etwas überraschend, denn Teresa war vorher vom Konzept des Kammerchors Vocalis nicht unbedingt überzeugt. Es würde einen erheblichen zeitlichen und finanziellen Aufwand bedeuten, an den Proben und Konzerten teilzunehmen. Offenbar hatte sie die Ausstrahlung, der Glaube und auch die künstlerische Qualität des Kammerchors Vocalis überzeugt, ihre Energie lieber diesem Chor zu widmen und das Deseret Vokalensemble erst einmal auf Eis zu legen.
So kam es also, dass wir – es muss im November 2010 gewesen sein – an unserem ersten Probewochenende in Frankfurt teilnahmen. Der Chor bereitete eine Tournee mit einem Weihnachtsprogramm durch Finnland vor. Er wurde vom nicht lange zuvor berufenen William Ajhuacho geleitet, der aus Ecuador stammte. Der neue Dirigent legte sehr viel Wert auf homogenen Klang und auf Qualität, und neue Aspiranten auf eine Stelle im Chor mussten sich einem Vorsingen unterziehen. Daran kann ich mich noch gut erinnern: Dirigent und gesamter Chorvorstand – insgesamt bestimmt sechs Leute – nahmen an einem Tisch gegenüber dem Kandidaten Platz. Dann folgten mehrere Aufgaben, unter anderem musste ein Lied nach Wahl a cappella gesungen werden, man musste Rhythmusübungen vorklatschen, vom Blatt singen, mit dem Dirigenten im Duett singen und manches mehr. Höhepunkt war dann das Singen der vierstimmigen Motette Sicut Cervus von Orlando di Lasso mit Teresa, mir, einem weiteren neuen Kandidaten und einer Dame aus dem Chorvorstand, die im Alt einsprang. Danach zog sich das Gremium zur Beratung zurück.
Obwohl wir den Altersdurchschnitt des Chors deutlich anhoben, wurden Teresa und ich genommen und bereiteten ab diesem Zeitpunkt alle Programme des Kammerchors Vocalis bis zu dessen Auflösung im Jahr 2013 mit vor und sangen bei den meisten Konzerten mit. Der Aufwand war enorm: die Einarbeitung zweier Programme pro Jahr (ein Sommer- und ein Weihnachtsprogramm) erforderte im Verlauf von gut zwei Monaten drei bis vier sehr intensive Probewochenenden in Frankfurt und eine anschließende Tournee mit sechs bis sieben Konzerten in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. 2013 war sogar eine große Tournee durch Rumänien geplant; dazu kam es jedoch leider nicht mehr. Dazu später mehr.
Mit dem Kammerchor Vocalis verbinden Teresa und ich viele schöne Erlebnisse. Die jungen Leute im Chor legten eine ganz besondere Hingabe an den Tag und verstanden sich untereinander sehr gut. Die Programme bestanden in der Regel aus einem Teil mit Kompositionen aus dem klassisch/romantischen Repertoire und einem Teil mit Liedern, die dem Liedgut der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage entstammten und in Arrangements zu hören waren, die auch der weltbekannte Tabernakelchor aus Salt Lake City im Repertoire hat – mit dem Unterschied, dass Vocalis diese Lieder in deutscher Sprache vortrug. Das sicherte ihm ein absolutes Alleinstellungsmerkmal, und das war sicherlich einer der Gründe, warum viele der Konzertbesucher spätestens beim Schlussapplaus feuchte Augen bekamen und den Chor nur sehr ungern wieder ziehen ließen. Der Chor war ein Publikumsmagnet und trat nicht nur in Gemeindehäusern, sondern auch in Konzertsälen und in anderen Kirchen unentgeltlich auf – immer waren die Sitze im Auditorium bestens gefüllt, und immer wurde im Anschluss ans Konzert für einen guten Zweck Geld gesammelt.
Greifswald, Karlsruhe, Linz, Zollikofen, Stuttgart, Traben-Trarbach, Essen, Leipzig und Kiel sind nur einige wenige Orte, die mir spontan in den Sinn kommen, wenn ich daran denke, wo Teresa und ich überall mit dem Kammerchor Vocalis konzertiert haben. Ein durchschnittliches Konzertwochenende lief in etwa so ab: Anreise am Freitagabend mit gemütlichem Beisammensein und Spieleabend im Gemeindehaus der gastgebenden Gemeinde, am Samstagvormittag dann eine kleine Schlussprobe, anschließend Pilgern in die Stadtmitte und Singen in der Fußgängerzone, um Werbung für das Konzert am Abend zu machen und die Kirche vorzustellen. Dabei wurden Lieder aus dem Gesangsbuch zu Gehör gebracht. Anschließend Mittagessen im Gemeindehaus, das von vielen lieben, helfenden Händen zubereitet worden war. Abends das Konzert mit Stellprobe und einer Zeugnisversammlung kurz bevor es losging. Die Mitglieder der Kirche vor Ort hatten sich immer mächtig ins Zeug gelegt, was das Rühren der Werbetrommel anging, und so konnten wir in der Regel vor einem Publikum von 200 bis 500 Leuten singen. Meistens begleitete uns Bonny Tewes am Klavier oder Flügel, gelegentlich spielte sie auch die Pfeifenorgel, sofern vorhanden. Nach dem Konzert mischten wir uns noch unter die Leute. Der Sonntag darauf war „Music And The Spoken Word“ gewidmet. In der Abendmahlsversammlung der gastierenden Gemeinde kamen mehrere Mitglieder des Chors zu Wort; musikalisch untermalt wurde das Ganze durch zwei, drei Lieder aus dem Konzertrepertoire. Ein unvergessliches Erlebnis für die Gemeinde! Man muss hierzu wissen, dass die wenigsten es schaffen, einen eigenen Chor auf die Beine zu stellen. Mit den rund 30 Sängerinnen und Sängern des Kammerchors Vocalis platzte das Podium selbst in den größeren Gemeinden aus allen Nähten. Die Botschaften und die Musik waren von hoher Güte und aus einem Guss. Nach dem Gottesdienst trennten sich unsere Wege und jeder fuhr wieder nach Hause. Das nächste Konzert war dann schon zwei oder drei Wochen später wieder angesetzt.
2013 wurde der Chor von der Nachricht überrascht, dass die Kirche nicht mehr länger als Sponsor auftreten könne. Es war eine Entscheidung der damals neu formierten Gebietspräsidentschaft. Der Kammerchor Vocalis war eine Herzensangelegenheit des vormaligen Gebietspräsidenten gewesen. Der neue Präsident sah die Sache leider anders. Für die Chormitglieder war das ein großer Schock, denn die Streichung der Fördermittel bedeutete das Aus für den Chor in seiner damaligen Form. Die jungen Leute hätten sich niemals die aufzubringenden Reisekosten leisten können. Uns wurde nahegelegt, die Chormusik in den eigenen Pfählen und Gemeinden mehr zu fördern und gegebenenfalls in der Region für bestimmte Events einen Projektchor aufzustellen, der danach wieder aufzulösen sei. Das stand selbstredend der Philosophie und dem Qualitätsanspruch des Kammerchors Vocalis diametral entgegen. Rückblickend ist festzustellen, dass durch diese Maßnahme die Chormusik in der Kirche wieder in die Steinzeit zurückkatapultiert wurde. Ich persönlich kenne keine Gemeinde mehr, die einen festen Gemeindechor hat, und die Qualität des Gesangs von ad hoc zusammengestellten Chören bei größeren Veranstaltungen heute entspricht genau dem, was man bei einem so geringen Einsatz erwarten kann. Kein Vergleich zu einem Ensemble, das über viele Jahre zusammengewachsen ist und dessen Dirigent akribisch am Chorklang feilt.
Eine besondere Rolle hat beim Kammerchor Vocalis immer die vierstimmige Motette Sicut Cervus von Giovanni Pierluigi da Palestrina gespielt. Sie ist die lateinische Vertonung des Psalms 42 (Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, nach dir, Gott) und wird a cappella gesungen. Der Tenor beginnt, in Fugatomanier fallen dann Alt, Sopran und schließlich der Bass ein. Wir haben die Motette oft vor dem eigentlichen Konzert gesungen, und zwar beim Eintreten in den Saal und bei der Aufstellung auf der Bühne. War das letzte Chormitglied auf der Bühne angekommen, erklang der letzte Ton. Das wirkte sehr feierlich, edel und geistig. Natürlich konnten wir das Stück alle auswendig. Bei unserem Auftritt in Essen, ich glaube es war 2012, fuhr der gesamte Chor mit der Straßenbahn in die Stadtmitte, um wie immer die Menschen in der Fußgängerzone für das Konzert am Abend zu begeistern. Ohne dass es abgesprochen war, fing plötzlich einer unserer Tenöre an zu singen. Die anderen fielen ein, es folgten Alt, Sopran und Bass. In der Straßenbahn waren nur himmlisch anmutende Harmonien zu hören. Als das Stück zu Ende war und wir aussteigen mussten, konnte ich spüren, dass es bei den (unfreiwilligen) Zuhörern Eindruck hinterlassen hatte. Es war für alle Beteiligten ein ungewöhnliches und einzigartiges Erlebnis.
Einige der Chormitglieder des Chors haben diese Motette bei Teresas Beisetzung an ihrem Grab gesungen. Welches Stück hätte besser passen können? Der Psalm 42, insbesondere in dieser Vertonung, spendete den dringend benötigten Trost. Heute jährt sich Teresas Todestag zum achten Mal. Erinnerungen mögen verblassen, doch es kann sie uns niemand nehmen.