Teresa war ein Familienmensch. Ihre Familie lag ihr sehr am Herzen, und da die Familienforschung in der Kirche eine große Rolle spielt, wollte sie unbedingt ihre Familie in China ausfindig machen. Nach dem Wegzug aus China gab es keinerlei Verbindungen mehr zur verbliebenen Familie. Es folgt nun ein Bericht aus Teresas eigener Feder, der ursprünglich für die Veröffentlichung im Liahona gedacht war:
Für immer vereint
Ich bin in einer traditionellen, buddhistischen Familie in Taiwan aufgewachsen. Bereits in meiner Jugendzeit war ich auf der Suche nach dem wahren Schöpfer. Mit achtzehn fand ich die Kirche Gottes und entschloss mich bald zur Taufe. Wie viele andere bekehrte Mitglieder in Taiwan stand auch ich nach der Taufe vor einer Menge Herausforderungen. Meine Brüder meinten, ich hätte unseren Ahnen gegenüber etwas Schändliches getan, weil ich mich einer ausländischen Kirche angeschlossen hatte. Auch meine Mutter war nicht ganz einverstanden mit meiner Entscheidung, hatte jedoch wegen der Anschuldigungen meiner Brüder Mitleid mit mir. So verging ein ganzes Jahr, bis meine Mutter unheilbar krank wurde.
Während ihrer Krankheit sprach sie häufig über ihre Familie in China, die sie seit der Zeit, da sie China verlassen musste, nie wieder gesehen hatte und zu der sie aufgrund der politischen Umstände keine Verbindung haben konnte. Ich spürte, wie groß ihre Sehnsucht nach ihrer Familie in der alten Heimat war. Damals war ich aber zu jung, um die Bedeutung all dessen zu verstehen, was sie bewegte. Sie war kein Mitglied der Kirche, doch war sie eine tugendhafte Frau. Nachdem mein Vater bereits zehn Jahre zuvor schwer erkrankt und von dieser Welt geschieden war, hielt sie die Familie zusammen. Sie war die beste Mutter, die ich mir vorstellen konnte, und sie widmete ihren Kindern bis zum Ende ihres Lebens alles, was sie hatte. Das schönste und letzte Erlebnis, das ich mit ihr haben durfte, war an einem Tag kurz vor ihrem Tod, als sie voll Schmerzen im Bett lag. Ich fragte sie, ob sie mit mir beten würde, denn der Gott, an den ich glaube, könne ihre Schmerzen lindern. Sie war einverstanden, und so haben wir gemeinsam unser erstes und letztes Gebet gesprochen. Nach dem Gebet konnte sie ruhig schlafen. Ein paar Tage später ging sie in Frieden in die Geisterwelt über.
Als neues Mitglied der Kirche lernt man, dass man nach seinen Vorfahren forschen und für die verstorbenen Familienmitglieder im Tempel heilige Handlungen vollziehen soll. Das tat ich auch für meine Eltern. Danach dachte ich mir, meine Aufgabe sei erfüllt, da ich nicht wusste, wie ich meine Ahnenforschung hätte fortsetzen können. Die Informationen, die meine Eltern hinterlassen hatten, waren leider nur äußerst spärlich.
Dann kam ein Wendepunkt, denn der Herr ließ mich wissen, dass es noch längst nicht ausreichte, was ich für meine Ahnen getan hatte.
Im Jahr 2003 sprach Präsident James E. Faust bei der Herbst-Generalkonferenz über Ahnenforschung. Seine Worte drangen tief in mein Herz und ließen mich nicht mehr los. Ich hatte das Gefühl, dass er besonders zu mir gesprochen hatte. Ständig musste ich an meine Verwandten in China und an meine Mutter denken. Mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste. Erfreulicherweise waren sich zu diesem Zeitpunkt die Volksrepublik China und Taiwan politisch näher gekommen. Es war taiwanesischen Bürgern erlaubt aufs Festland zu reisen, um dort ihre Verwandten zu besuchen. Die Regierung auf dem chinesischen Festland hatte eine Dienststelle eingerichtet, an die sich Taiwanesen wenden und Hilfe erhalten konnten, um ihre Verwandten in China zu finden. Also plante ich meine erste Ahnenforschungsreise nach China.
Im Frühjahr des Jahres 2004 traf ich in der Heimatstadt meiner Eltern ein, in Wuhan. Mit der Hilfe der besagten Dienststelle machte ich die Gegend ausfindig, wo meine Eltern früher gelebt hatten. Die Namen der Ortschaften hatten sich jedoch geändert, und während der Kulturrevolution waren viele genealogische Aufzeichnungen vernichtet worden, was die Sache noch schwieriger machte. Ich musste immer an Nephi denken, der immer fest entschlossen war, die Gebote zu halten: „Der Herr gibt den Menschenkindern keine Gebote, ohne ihnen einen Weg zu bereiten, damit sie das vollbringen können, was er ihnen gebietet.“ (1Nephi 3:7.) Also ging ich auf der Suche nach meinen lebenden Verwandten Schritt für Schritt von Dorf zu Dorf. Nach einer Woche fand ich endlich die Straße, wo mein Vater gelebt hatte. Ein Greis saß am Straßenrand. Ich erkundigte mich bei ihm nach meiner Familie. Plötzlich sah er mich mit strahlenden Augen an und fragte: „Weißt du, wer ich bin? Ich bin dein Onkel, der Bruder deines Vaters.“ Er erzählte mir vieles über meine Eltern und stellte mir seine ganze Verwandtschaft vor. So nahm das Ahnenforschungswunder seinen Anfang.
Ein Jahr später setzte ich meine Familienforschung fort. Mit der Hilfe meiner lebenden Verwandten in China fand ich in einem abgelegenen Ort mehrere Ahnenbücher, worin Herkunft und Geschichte der Familie meines Vaters über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren verzeichnet waren. Ich war überglücklich, aber meine Vorfahren mütterlicherseits waren nicht zu finden. Die Dienststelle versprach mir, nach meiner Abreise aus China weitere Nachforschungen über die Familie meiner Mutter anzustellen.
Mehrere Jahre vergingen, doch von den chinesischen Behörden hörte ich nichts. Meine Sehnsucht, endlich etwas über die Familie meiner Mutter in Erfahrung zu bringen, wurde immer größer. Anfang 2011 entschloss ich mich, wieder nach China zu reisen, um den jüngeren Bruder meiner Mutter zu finden. Aber wohin sollte ich gehen? Wie konnte ich das nur bewerkstelligen? Vor der Abreise bat ich meinen Mann, mir einen Priestertumssegen zu geben. Dann trat ich voller Vertrauen meine Reise an, hinein ins Ungewisse.
Ich wusste, dass mein Großvater – der Vater meiner Mutter – in seiner Heimat aufgrund seiner Hilfsbereitschaft sehr angesehen war. Es musste jemanden geben, der von ihm gehört hatte, oder es mussten sich irgendwelche Spuren finden lassen, die mich zu seinen Nachkommen hinführen konnten. Ich entschloss mich, die Dienststelle noch einmal aufzusuchen. Die Beamten berichteten mir, dass sie niemand hatten ausfindig machen können und entschuldigten sich, dass sie nicht mehr für mich tun konnten. Mit großer Enttäuschung verließ ich die Behörde. Verzweifelt fragte ich den Vater im Himmel: „Was soll ich tun? Soll ich aufgeben? Wenn du nicht möchtest, dass ich aufgebe, wohin soll ich gehen?“ Zur selben Zeit sah ich, wie sich ein paar Menschen auf der Straße angeregt unterhielten. Ich bat sie um Auskunft über meine Familie. Sie diskutierten kurz miteinander, dann erwiderte die älteste der Frauen: „Lauf am besten zurück, etwa hundert Meter entfernt auf der rechten Seite der Straße wohnt ein alter Mann, vielleicht weiß der Bescheid.“ Ich tat, was sie mir geraten hatte. Tatsächlich war da ein Mann, der mit einigen anderen Gästen im Haus Majiang spielte. Wir unterhielten uns draußen ein paar Minuten, doch stellte ich bald fest, dass ihm mein Großvater unbekannt war. Gerade wollte ich wieder gehen, als eine hochbetagte Frau, die drinnen am Spieltisch saß, ausrief: „So einen Mann kannte ich, seine Enkelkinder wohnen in der Nähe.“ Das machte mich überglücklich. Bald schon hatte ich eine meiner Cousinen gefunden. Durch sie konnte ich mit dem jüngeren Bruder meiner Mutter Kontakt aufnehmen. Er erzählte mir, wie sehr er uns vermisst hat. Zweimal war er nach Taiwan gereist und hatte vergeblich versucht, uns ausfindig zu machen. Voll Freude musste ich daran denken, was mir in dem Segen, den ich vor meiner Reise empfangen hatte, verheißen worden war: „Deine Ahnen werden dich führen, und du wirst sie finden.“ Ich musste auch an die Schriftstelle denken, die ich an jenem Morgen gelesen hatte: „Und dann wird die Macht des Himmels unter sie herabkommen; und auch ich werde inmitten sein. … Ich werde vor ihnen hergehen, spricht der Vater, und ich werde ihre Nachhut sein.“ (3 Nephi 21:25-29.) Plötzlich verstand ich, wie das Werk des Herrn auf der Erde verrichtet wird. Wir arbeiten nicht nur mit den Lebenden, sondern auch mit den Verstorbenen im Jenseits und mit den Engeln. Durch das Priestertum sind wir miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. So reichen wir einander die Hand und helfen uns gegenseitig.
Die Worte von Maleachi sind wahr. Durch das Evangelium Jesu Christi wird die wahre Bedeutung der Familie offenbart. Durch die Macht des Himmels wird die Kluft zwischen Leben und Tod überbrückt. Ohne die Hilfe Gottes sind wir wahrhaftig verloren. Er versetzt uns in die Lage, unsere Familie mit anderen Augen zu betrachten, so dass sich unser Verständnis für das Band der Liebe zwischen den Familienmitgliedern erweitert. Welche große Hoffnung und Freude werden uns doch zuteil, wenn unsere Liebe dadurch, dass wir unser Herz unseren Vorfahren zuwenden, immer mächtiger wird. Der Herr hat uns durch seine wiederhergestellte Vollmacht ermöglicht, für sie stellvertretende heilige Handlungen im Tempel zu vollziehen. Hierdurch können wir gemeinsam mit ihnen die größte Freude empfinden, die der Herr seinen Kindern verheißen hat. Diese Erkenntnis stimmt mich demütig und dankbar.
Das Stück, das jetzt folgt, ist das Recordare aus dem Requiem von Mozart. Recordare heißt erinnern, und ich erinnere mich gern daran, wie ihre engelsgleiche Stimme über den anderen Stimmen geschwebt hat.
Hier geht’s zu den MP3-Aufzeichnungen der Trauerfeier mit dem Recordare aus Mozarts Requiem.